11.07.2024

Vorlagefragen zur Anspruchsauslegung an die Große Beschwerdekammer

Seit Monaten wird erwartet, dass sich die Große Beschwerdekammer mit dem Thema der Beschreibungsanpassung wird befassen müssen. Nun sind ihr aber zunächst viel grundlegendere Fragen vorgelegt worden.

Global gesehen ist es nicht üblich, vor Erteilung einer Patentanmeldung die Beschreibung im Licht der Patentansprüche anzupassen. Lediglich in Deutschland und vor dem Europäischen Patentamt (EPA) wird eine solche Beschreibungsanpassung gefordert und auch von den Prüfern kontrolliert.

Grundsätzlich kann eine Änderung der Beschreibung im Rahmen der engen Grenzen von Art. 123(2) EPÜ und § 38 S. 1 PatG sinnvoll sein, denn Gerichte ziehen nach Erteilung regelmäßig die Beschreibung zur Auslegung der Patentansprüche heran. So heißt es beispielsweise im zweiten Leitsatz der Entscheidung UPC_CoA_335/2023 vom 26.02.2024: „Für die Auslegung eines Patentanspruchs kommt es nicht allein auf seinen genauen Wortlaut im sprachlichen Sinne an. Vielmehr sind die Beschreibung und die Zeichnungen als Erläuterungshilfen für die Auslegung des Patentanspruchs stets mit heranzuziehen und nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten im Patentanspruch anzuwenden.“

Durch die Verpflichtung zur Beschreibungsanpassung ist diese in der täglichen Praxis vor dem EPA allerdings zu der Übung geworden, den wichtigsten Stand der Technik zu nennen und das Wort „Erfindung“ gegen „Offenbarung“ auszutauschen. Ggf. waren noch Erklärungen zur Aufnahmen von Dokumenten durch Bezug zu streichen, da dies kein zulässiges Vorgehen unter dem EPÜ ist. Dem versuchte das EPA offensichtlich entgegenzuwirken, indem es 2021 in die Prüfungsrichtlinien aufnehmen ließ, dass Offenbarung in der Beschreibung, die nicht unter die Patentansprüche fällt, entweder zu streichen oder als solche zu kennzeichnen sei. Diese Vorgabe wird seitdem je nach Prüfungsabteilung unterschiedlich strikt befolgt.

In der Folge hatten sich die Beschwerdekammern des EPA mehrfach mit der Frage zu befassen, ob Beschreibungsanpassungen nötig seien.

So hat im Verfahren T 56/21 die Beschwerdekammer im Juli 2023 in Aussicht gestellt, der Großen Beschwerdekammer die Frage vorzulegen, ob es zu einem Mangel unter Art. 84 EPÜ führt, wenn die Beschreibung nicht gemäß den aktuellen Prüfungsrichtlinien geändert wird. Seitdem sind mehrfache Eingaben Dritter erfolgt und es ist noch keine Zwischenentscheidung ergangen.

Die Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern des EPA ist dabei keineswegs einheitlich (vgl. T 1989/18 und T 447/22), so dass sowohl von Anmelderseite als auch seitens der Patentanwaltschaft Klärungsbedarf gesehen wird. Zu einem erheblichen Teil lassen sich die unterschiedlichen Auffassungen der Beschwerdekammern auf ein unterschiedliches Verständnis der Bedeutung von Art. 69 EPÜ zurückführen. Nach Art. 69(1) S. 2 EPÜ sind die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen. Diese Vorschrift stimmt somit mit der Praxis der Gerichte nach Erteilung überein, vergl. die eingangs genannte UPC-Entscheidung.

Art. 69 EPÜ betrifft den Schutzbereich, also einen Aspekt, für den streng genommen das EPA nicht zuständig ist. So befand eine Beschwerdekammer in der Entscheidung T 2563/11, dass der Schutzbereich durchaus breiter als der „beanspruchte Gegenstand“ sein kann. Für den beanspruchten Gegenstand sei somit nicht auf die Beschreibung zurückzugreifen.

Eine Beschwerdekammerentscheidung, die den Schutzbereich und damit das mögliche Schicksal vor Gericht ignoriert, kann zum einen zurecht als für einen Anmelder von fragwürdigem Wert angesehen werden. Zum anderen scheint die Große Beschwerdekammer eine Unterscheidung von beanspruchtem Gegenstand und Schutzbereich nicht vorgenommen zu haben. So heißt es in der Entscheidung G 6/88 unter Punkt 3 der Entscheidungsgründe: „Die Auslegung der Ansprüche zur Bestimmung ihrer technischen Merkmale ist gemäß Artikel 69 (1) EPÜ und dem dazu ergangenen Protokoll vorzunehmen. … Das Protokoll verfolgt offenkundig den Zweck, eine Überbewertung des konkreten Wortlauts der Patentansprüche zu vermeiden, wenn diese losgelöst vom übrigen Text des entsprechenden Patents betrachtet werden“.

In der Entscheidung G 2/88 hatte die Große Beschwerdekammer unter Punkt 2.5 der Entscheidungsgründe festgestellt, dass nach Artikel 84 EPÜ die Patentansprüche „den Gegenstand angeben müssen, für den Schutz begehrt wird.“ Weiterhin dienten die Ansprüche dazu, „den Schutzbereich des Patents (oder der Patentanmeldung) (Art. 69 EPÜ) und damit die Rechte des Patentinhabers in den benannten Vertragsstaaten (Art. 64 EPÜ) unter Berücksichtigung der Voraussetzungen für die Patentierbarkeit nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ festzulegen.“ Eine künstliche Unterscheidung von Schutzbereich und beanspruchtem Gegenstand lässt sich auch hier nicht erkennen.

Seit wenigstens 20 Jahren hat sich unter den Beschwerdekammern des EPA eine wenig erfreuliche, aber breit gefächerte Vielfalt an Entscheidungen zur Relevanz der Beschreibung für die Anspruchsauslegung gebildet.

Vor diesem Hintergrund sah sich nun eine Beschwerdekammer im Verfahren T 439/22 genötigt, die Große Beschwerdekammer um Klärung zu bitten. Im vorliegenden Fall enthielt Anspruch 1 das Merkmal „zusammengefasstes Flächengebilde“. Legte man den Anspruchswortlaut mit dem Verständnis des Fachmanns zu Grunde, so war der Anspruch als neu einzustufen. Die Beschreibung des Patents wies dem Begriff aber eine breitere Bedeutung zu, mit der Anspruch 1 als neuheitsschädlich getroffen einzustufen war.

Folgende Fragen werden der Großen Beschwerdekammer vorgelegt:

1. Sind Artikel 69 (1) Satz 2 EPÜ und Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ bei der Auslegung von Patentansprüchen anzuwenden, wenn die Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ beurteilt wird?

2. Dürfen die Beschreibung und die Figuren bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden, und wenn ja, darf dies generell geschehen oder nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch für sich genommen als unklar oder mehrdeutig ansieht?

3. Darf eine Definition oder eine ähnliche Information zu einem in den Ansprüchen verwendeten Begriff, die ausdrücklich in der Beschreibung angegeben ist, bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit außer Acht gelassen werden, und wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Die vorlegende Kammer hat offensichtlich erkannt, dass die Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern teilweise nicht im Einklang mit den Aussagen der Großen Beschwerdekammer von vor 35 Jahren steht. So verweist sie unter Punkt 3.2, inklusive Unterpunkten, der Entscheidungsgründe auf Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 und unter Punkt  4.3.4 erneut auf Entscheidung G 2/88. 

Sie stellt zu Recht unter Punkt 4.1 der Entscheidungsgründe fest: „Die Erteilung europäischer Patente ist kein Selbstzweck.“ Unter Punkt 4.1.1 fährt sie fort: „… es ist von größter Bedeutung, dass der Gegenstand, der vom Europäischen Patentamt während des Erteilungs- und Einspruchsverfahrens geprüft wird, mit dem Gegenstand identisch ist, der von den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten als Grundlage für die Gewährung des Monopolschutzes herangezogen wird, sobald das europäische Patent in Kraft getreten ist.“ Unter Punkt 4.3 heißt es dann: „Eine weitere Frage ist, ob der Fachmann einen Anspruch als unklar ansehen muss, um die Beschreibung und die Figuren bei der Auslegung eines Anspruchs zur Beurteilung der Patentierbarkeit berücksichtigen zu können. Nach Kenntnis der Kammer bejaht keine nationale Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Patentorganisation diese Frage.“

Es scheint somit, dass die grundlegenden Fragen zur Anspruchsauslegung gerade die nachrangigen Fragen zu Sinn und Umfang der Beschreibungsanpassung rechts überholt haben.

Interessanterweise scheint der Präsident des EPA angesichts dieser vorlegenden Entscheidung mit einer überwältigenden Zahl von Anträgen zur Auslegung von Ansprüchen durch Verfahrensbeteiligte zu rechnen. Kaum anders ist seine Anordnung zu verstehen, dass „angesichts der Notwendigkeit … der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des EPA“ Prüf- und Einspruchsverfahren nicht ausgesetzt werden.

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