18.12.2024

Offenkundige Vorbenutzung: Eine leicht verständliche Einführung

1. Einleitung
Der Begriff der „offenkundigen Vorbenutzung“ spielt im Patentrecht eine wichtige Rolle, wenn es um die Beurteilung der Neuheit einer Erfindung geht. Eine Erfindung gilt nämlich nur dann als neu, wenn sie vor ihrem Anmeldetag der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich gemacht wurde. Offenkundige Vorbenutzung beschreibt einen Fall, in dem die technische Lehre bereits vor dem Prioritätstag so öffentlich nutzbar oder einsehbar war, dass sie als Stand der Technik betrachtet werden muss. Dies kann dazu führen, dass ein Patent oder Gebrauchsmuster nicht erteilt wird oder nachträglich seine Schutzfähigkeit verliert.
In diesem Artikel erfahren Sie, welche rechtlichen Grundlagen es gibt, unter welchen Voraussetzungen eine Vorbenutzung als neuheitsschädlich gilt, wie der Nachweis geführt wird und welche Rolle dabei Beweismittel wie Zeugen oder Urkunden spielen. Sie erhalten zudem praktische Hinweise, wie Sie im Unternehmensalltag mit dieser Thematik umgehen können.

2. Rechtlicher Rahmen und Grundlagen
Die Neuheit ist eine zentrale Bedingung für den Patentschutz. Sowohl das deutsche Patentgesetz (§ 3 PatG) als auch das Europäische Patentübereinkommen (Art. 54 EPÜ) fordern, dass eine Erfindung vor dem maßgeblichen Anmeldetag noch nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht sein darf. Zum Stand der Technik gehört dabei alles, was in irgendeiner Form öffentlich bekannt geworden ist – sei es durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder auf sonstige Weise. Offenkundige Vorbenutzung bedeutet, dass bereits vor dem Anmeldetag ein Produkt, Verfahren oder eine bestimmte technische Lösung öffentlich zugänglich war. Dies kann auch dann zutreffen, wenn nur ein einziger Benutzungsfall oder ein einziges Angebot erfolgt ist.

3. Voraussetzungen für eine offenkundige Vorbenutzung
Damit eine offenkundige Vorbenutzung vorliegt, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:

  • Öffentliche Zugänglichkeit: Die betreffende technische Lehre muss tatsächlich so präsentiert worden sein, dass ein unbestimmter Personenkreis die Möglichkeit hatte, davon Kenntnis zu nehmen.
  • Erkennbarkeit der technischen Merkmale: Fachleute müssen in der Lage sein, die technischen Merkmale ohne erfinderisches Bemühen zu erkennen und nachzuarbeiten. Dies kann beispielsweise durch Betrachten, Zerlegen oder Untersuchen eines frei verfügbaren Erzeugnisses geschehen.
  • Zeitpunkt vor dem Prioritätstag: Die offenkundige Vorbenutzung muss vor dem für den Zeitrang maßgeblichen Tag (Prioritätstag) stattgefunden haben.

4. Nachweis der offenkundigen Vorbenutzung
Der Nachweis einer Vorbenutzung kann anspruchsvoll sein. Es gelten strenge Anforderungen, denn es muss zweifelsfrei belegt werden, wann, was, wem und unter welchen Umständen zugänglich gemacht wurde. Die Beweiskette sollte lückenlos sein:

  • Wer? Wer hat die Erfindung zugänglich gemacht?
  • Was? Welches konkrete technische Merkmal oder Produkt wurde offenbart?
  • Wann? Zu welchem Zeitpunkt fand die Offenbarung statt?
  • Wem? War die Offenbarung für einen beliebigen Personenkreis zugänglich?
  • Wo? Wo wurde offenbart?

Fehlt nur ein Teil dieser Beweiskette oder bestehen Zweifel an der Glaubhaftigkeit, kann die Vorbenutzung gegebenenfalls nicht als neuheitsschädlich gewertet werden.

5. Beweismittel im Detail
Um eine offenkundige Vorbenutzung zu belegen, stehen verschiedene Beweismittel zur Verfügung:

  • Urkundenbeweis: Rechnungen, Lieferscheine, Kataloge oder andere schriftliche Dokumente, die den Zeitpunkt und den Inhalt der Offenbarung belegen.
  • Zeugenbeweis: Personen, die glaubhaft bestätigen können, dass sie Kenntnis von der betreffenden technischen Lehre hatten oder beobachten konnten, wie Dritte Zugang erhielten.
  • Sachverständige: Gutachter, die den technischen Zusammenhang beurteilen können.
  • Augenschein: Die tatsächliche Inaugenscheinnahme eines Produkts oder einer Anlage, eventuell auch verbunden mit deren Zerlegung, um technische Merkmale zu erkennen.
  • Eidesstattliche Versicherung (kein Beweis, Glaubhaftmachung): Schriftliche, an Eides statt abgegebene Erklärungen zur Authentizität von Dokumenten oder zur Herkunft von Beweismitteln.

Im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) sind gemäß Artikel 117 EPÜ ähnliche Beweismittel zugelassen.

6. Besonderheiten beim Gebrauchsmuster
Beim Gebrauchsmuster unterscheidet sich der Neuheitsbegriff in einem wichtigen Punkt: Der Stand der Technik umfasst dort nur im Inland erfolgte Benutzungshandlungen sowie schriftliche Beschreibungen. Eine offenkundige Vorbenutzung im Ausland ist für ein deutsches Gebrauchsmuster nicht neuheitsschädlich. Mündliche Mitteilungen spielen beim Gebrauchsmuster ebenfalls keine Rolle.
Haben Sie ein Patent angemeldet, kann es strategisch sinnvoll sein, zusätzlich ein Gebrauchsmuster abzuzweigen, um im Falle eines im Ausland liegenden Vorbenutzungsfalls ein weiteres Schutzrecht geltend zu machen.

7. Der Zeugenbeweis – Chancen und Risiken
Ein Zeuge kann helfen, Lücken in der Beweiskette zu schließen. Doch der Zeugenbeweis birgt auch Risiken:

  • Kreuzverhör: Ein nervöser oder unvorbereiteter Zeuge kann unter Befragung unglaubwürdig wirken.
  • Ausfall des Zeugen: Krankheit oder Arbeitgeberwechsel können dazu führen, dass ein wichtiger Zeuge nicht mehr verfügbar ist.
  • Glaubwürdigkeit: Wird ein Geschäftsführer oder jemand mit wirtschaftlichem Interesse befragt, zweifelt mancher Richter dessen Unvoreingenommenheit an.

Vermeiden Sie deshalb, einen Zeugen im Vorfeld zu beeinflussen. Mehrere Zeugen zu benennen, kann sinnvoll sein. Nutzen Sie eidesstattliche Versicherungen vor allem zur Bestätigung der Herkunft von Dokumenten, aber vermeiden Sie es, den kompletten Sachverhalt dort abzubilden. So halten Sie sich die Möglichkeit einer späteren Zeugenvernehmung offen.

8. Handlungsempfehlungen aus der Praxis
Um eine solide Beweiskette aufzubauen, empfiehlt es sich, frühzeitig eine klare Strategie zu entwickeln:

  • Dokumentation optimieren: Sorgen Sie für eine ordentliche Archivierung von Rechnungen, Lieferscheinen und Katalogen.
  • Koordination interner Abteilungen: Holen Sie die Einkaufs-, Entwicklungs-, Vertriebs- und Qualitätsmanagementabteilungen ins Boot.
  • Roter Faden: Stellen Sie sicher, dass Produktnummern, Artikel- und Chargenbezeichnungen auf allen Dokumenten übereinstimmen.
  • Kataloge und Zeitstempel nutzen: Ein älterer Produktkatalog mit Datum oder Abnahmeprotokolle von Softwarefunktionen können wertvolle Hilfsmittel sein.
  • Zulieferteile und Fremdprodukte: Prüfen Sie, ob Rückstellmuster vorhanden sind oder ob sich Herstellerkooperationen lohnen.
  • Zeugen umsichtig wählen: Benennen Sie unvoreingenommene Personen, vermeiden Sie Interessenkonflikte.

9. Fazit und Ausblick
Die offenkundige Vorbenutzung kann ein scharfes Schwert sein, wenn es um die Verteidigung oder den Angriff auf ein Schutzrecht geht. Eine sorgfältige, lückenlose Beweisdokumentation ist für den Erfolg entscheidend. Investieren Sie Zeit, um alle relevanten Unterlagen frühzeitig zusammenzutragen. Prüfen Sie, ob die technische Lehre für Fachleute nachvollziehbar war, ob die Öffentlichkeit realen Zugang hatte und ob ein schlüssiger Ablauf belegbar ist. Mit einer guten Vorbereitung lassen sich Risiken minimieren und Ihre Erfolgschancen in Prüfungs-, Einspruchs-, Beschwerde-, Nichtigkeits- oder Verletzungsverfahren erhöhen.

10. Weiterführende Informationen

  • Patentgesetz (PatG) und Europäisches Patentübereinkommen (EPÜ)
  • Kommentare und Fachliteratur zum PatG und EPÜ
  • Rechtsprechungsdatenbanken, um einschlägige Entscheidungen zu recherchieren
  • Beratung durch einen Patentanwalt oder Fachleute aus dem Bereich Intellectual Property Management

Mit diesem Wissen sind Sie nun besser vorbereitet, wenn es um die Frage geht, ob eine Erfindung tatsächlich neu ist oder durch eine frühere offenkundige Vorbenutzung bereits „alte Bekannte“ im Stand der Technik existieren.

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